Das Kindelein in ihren Armen lag vollkommen still
Es hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Und in diesem Moment war es so, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Der gesamte Eibenwald hielt den Atem an. Die mütterliche Eibenfrau schloss langsam wieder ihre Tore und umarmte den uralten Lichtkönig, der in ihren Armen gestorben war. Nun war die Zeit des Abwartens gekommen auf die neue Ankunft. Es war seit vielen Äonen schon die Zeit zwischen den Welten, in der die Schleier zwischen Traum und Wirklichkeit verschwammen und sich die Hand reichten.
Die große Mutter atmete einmal tief ein und drückte das Lichtbaby in ihren Armen an ihr mütterliches Herz. Und schließlich atmete sie endlos lange aus. In ihrem Ausatmen hob sie ihren Blick nach oben und schaute auf das Wurzelwerk der Eibenfrau. Still, abwartend, empfangend.
In diesem Moment begann der zwölfte Traum
Der Lichtkönig fühlte etwas Weiches, Fedriges unter seinen Händen.
Er konnte die Augen noch nicht öffnen, dafür waren sie viel zu schwer. Doch er konnte spüren. Er hielt sich an einer Art Federkleid fest und lag bäuchlings auf einem Wesen.
Er konnte die Ein- und die Ausatmung dieses Wesen spüren. Neben seinem Körper spürte er, dass eine Art Schwingen oder Flügel sich auf und ab bewegten. Er musste auf einem riesigen Flugtier liegen, welches ihn auf seinem Rücken trug.
Der Lichtkönig versuchte erneut seine Augen zu öffnen, aber es ging einfach nicht.
"Was war das? Warum waren die Augen nur so schwer?"
„Werter Herr König", erklang eine Stimme in seinem Kopf.
"Sie dürfen lernen ihre anderen Augen zu öffnen. Ihre körperlichen Augen sind nicht mehr. Erinnern sie sich? Sie sind hinübergeglitten zwischen den Welten. Dies hier, werter Lichtkönig, ist die Welt dazwischen.“
Langsam kam die Erinnerung zurück. Der Lichtkönig verstand, was das Wesen zu ihm sprach und in diesem Moment wusste er auch, wie er wahrhaftig „sehen“ konnte.
Er öffnete sein Herz und ließ all die Gefühle, die er in seinem Leben erlebt hatte zu: Die Lebenslust, die Liebe, den Ehrgeiz, die Dankbarkeit und die Weisheit ließ er auf einmal durch sein Herz fließen. Er ließ all das durch ihn strömen wie ein breiter, weiter Fluss.
Das war der Moment, in dem sich das Dunkel lichtete...
... und aus dem Schwarz der tiefsten Nacht heraus, sah er vor sich ein schneeweiß glänzendes Gefieder.
Er sah seine eigenen Hände, doch sie sahen nicht mehr wie seine Hände einst aus. Sie leuchteten in purem Gold. Mit seinen Händen hielt er sich am Gefieder des Wesens fest. Der Lichtkönig schaute weiter auf und entdeckte, dass das Wesen einen langen, weisen Hals hatte, einen orangen Schnabel und zwei breite, weiße Flügel die links und rechts an den Seiten geräuschlos auf und nieder schlugen.
Sie flogen gemeinsam, nicht durch eine Landschaft. Nein, sie flogen einfach durch die Dunkelheit. Es gab kein Oben und kein Unten, kein Links und kein Rechts. Es gab nur Schwarz und das Weiß des Flugtiers.
„Du bist die weiße Gans nicht wahr“, dachte der Lichtkönig bei sich und wusste, dass das Wesen ihn auch in seinen Gedanken verstehen würde. Er wusste, dass er seinen Mund nicht benutzen musste.
„So ist es mein Lichtkönig. Ich bin die Hexe Julmond und ich symbolisiere den 12ten Monat Deines Lebens, den Julmond oder auch Dezember genannt.“
„Es ist der Monat des Übergangs. Der Monat, der zwichen den Welten existiert.“, vervollständigte der Lichtkönig die Gedanken der weißen Gans.
„So ist es. Ich sehe schon, werter König. Die Erinnerung kehrt zurück. Sehr gut, genau zur rechten Zeit. Die große Mutter wartet schon auf Deine Wiederkehr.“
„Sag Hexe Julmond. Ich weiß Du hast es mir schon Millionen Mal gesagt. Aber sag es mir noch einmal. Was ist der Sinn von all dem? Warum tun wir das, den Tanz des Lebens und des Sterbens immer wieder zu wiederholen?“
Langsam glitten Lichtkönig und weiße Gans durch das Schwarz, ganz so wie durch einen Ozean aus Dunkelheit.
„Baldur mein Sohn, Fürst des Lichts, alter Lichtkönig. Seit viele Zeitaltern schon habe ich Dich auf meinem Rücken getragen, zurück zu ihr. Und in jedem Jahr hast Du mir dieselbe Frage gestellt. Du kennst die Antwort bereits.“
„Wir tun es, um uns zu erinnern“, erinnerte sich der König bei sich.
„Um uns zu erinnern, dass wir alle königlich sind. Um uns zu erinnern, dass wir alle wertvoll sind und unendliche Liebe sind.“
„So ist es mein König.“, erklang die Stimme von Hexe Julmond in des Königs Kopf.
„Dich zu erinnern, dass in jeder Erfahrung des Lebens, in jedem Lachen, in jedem Weinen, in jedem Lieben und in jedem Trauern, in jedem Geborenwerden und in jedem Sterben unendlich viel Liebe steckt. Dass Du vollkommen bist. Dass Du Dich nicht anstrengen brauchts, um wertvoll zu sein, sondern zu erkennen, dass Du von Anbeginn der Zeit bereits unendlich wertvoll bist.“
Der König schwieg eine Weile, bis er in seinem Kopf sprach.
„Ja ich erinnere mich wieder. Alle Erfahrungen, allen Wesen, denen ich begegnen bin und alle Gefühle, die ich durchlebt habe, waren nur dafür da, um mir zu zeigen, dass die Welt mir immer in Liebe begegnet und dass die Erde und der Himmel und das ganze Universum es immer gut mit mir meint. Dass ich erkenne, dass ich unendlich geliebt bin. Das sehe ich jetzt. Das fühle ich jetzt.
Und das sehe ich auch in jedem Wesen, das mir auf meiner Reise begegnen ist. Ich sehe, dass uns nichts trennt. Egal ob es ein winziges Wesen, wie eine Biene ist oder ein mächtig, großer Bär. Egal ob es das goldene Korn auf dem Feld ist oder die Nebelschwaden im Wald.
Wir sind alle königlich. Wir sind alle göttlich und wir sind alle aus der einen Quelle der Liebe. Es gibt niemanden auf dieser Welt, der besser oder schlechter ist als der Andere.
Was wäre die Erde ohne die Blumen, Bäume, Sträucher und Wiesen?Niemand würde erkennen, wie wertvoll die Erde ist und dass aus ihr Leben wachsen kann.
Was wäre der Himmel ohne die Sterne, den Mond und die Sonne?
Niemand würde erkennen, wie wertvoll der Himmel ist und könnte sehen, welch großen Raum der Himmel schenkt, für all die Wesen zum Entfalten.
Was wären wir alle ohne einander?
Wir könnten nicht lernen, uns selbst und uns gegenseitig zu lieben.“
Der Lichtkönig schwieg
Wortlos schwebte die weiße Gans Hexe Julmond mit dem Lichtkönig auf dem Rücken durch das Schwarz zwischen den Welten.
Nach langem Schweigen ließ der Lichtkönig noch einmal seine Gedanken erklingen. Diesmal richtete er sich nicht an Hexe Julmond, sondern an jemand anderen.
„Ich möchte Dir einfach eine einzige Fragen mitgeben. Ja genau Dir, der Du oder die Du dieses Märchen hier hörst oder liest:
Wenn Du wüsstest, dass Du unendlich geliebt und wertvoll bist, wie würdest Du Dein Leben ab jetzt leben?“
„Wir sind angekommen“, sprach die weiße Gans Hexe Julmond in ihren Gedanken. Und ein letztes Mal glitt der Lichtkönig hinüber in einen traumlosen Schlaf.
Kleines Ritual zur zwölften Rauhnacht:
Entzünde nun insgesamt zwölf Kerzen auf Deinem Lichterteller, Lichteraltar oder Tablet.
Lasse das Licht nun vorwärts auf Dein neues Jahr scheinen. Schließe dabei die Augen und spüre, wie Dein zukünftiger Weg erhellt wird.
Was kannst Du wahrnehmen? Was möchte in Dein Leben kommen?
Versuche bei diesen Fragen den Verstand oder Deine eigenen Wünsche auszuschalten, sondern lausche Deiner Wahrnehmung.
Verbinde Dich beim Entzünden der Kerzen innerlich mit der Energie der weißen Gans. Diejenige die Dir bei den Übergängen hilft.
Setze Dich an Deine Kerzen und meditiere über folgende Frage:
Wenn Du wüsstest, dass Du unendlich geliebt und wertvoll bist, wie würdest Du Dein Leben ab jetzt leben?
Schreibe Dir Deine Erkenntnisse auf.
Liebe Germaid, vielen lieben Dank für dieses wunderschöne, tief berührende, nährende und kraftvolle Märchen, dem ich nun 12 Tage lauschen durfte ✨💖 Deine „Stimmen“ begleiteten deine wunderbaren Worte so einfühlsam, wunderbar und fesselnd. Vielen lieben Dank für deine so kostbare Arbeit! 💖✨
Ich wünsche dir ein ganz bezauberndes, lichtvolles, leichtes und nährendes Neues Jahr 2025 ☀️ Mit lieben Grüssen, Yvonne 💕💫✨