Ich stelle jetzt mal eine gewagte These in den Raum. Die meisten Menschen, die da draußen auf der Straße herumlaufen, sind „ewige Kinder“ verkleidet in einem Erwachsenenkörper.
Da ist die Businessfrau, die nach Außen hin stark, kompetent und unnahbar wirkt. Sie kann knallharte Verhandlungsgespräche führen und die großen Deals abwickeln. Sie hat sich einen harten Panzer zugelegt, um bloß nicht zu emotional und „weibisch“ vor ihren männlichen Kollegen zu wirken. Äußerlich ist ihr Weg von Erfolg gekrönt, aber indem sie sich den patriarchalen Strukturen anpasst und ihre weibliche Sensitivität unterdrückt, ist es so, als würde sie sich wieder ihrem dominanten Papa unterordnen, der ihr früher in ihrer Kindheit immer gesagt hat: „Hör auf zu weinen, sonst wird aus Dir nie was.“
Da ist die Yogalehrerin, die nach Außen hin so ausgeglichen und empathisch wirkt. Für jedermann und jederfrau ist sie da. Auch nach ihren Kursen nimmt sie sich selbstverständlich viel Zeit, ihren Kundinnen bei ihren Problemen zuzuhören und sie zu beraten. Natürlich nimmt sie kein Geld dafür, denn sie will ja helfen. Leider ist sie permanent überarbeitet, ohne dabei genügend Geld zu erwirtschaften. Der Fakt, dass sie als Yogalehrerin trotzdem chronisch müde und energielos ist, löst in ihr zusätzlich noch Scham aus. Sie versucht es allen Recht zu machen und denkt dabei nie an sich, genauso wie sie es in ihrer Kindheit getan hat, als sie um die Liebe ihrer narzisstisch, cholerischen Mutter gebuhlt hat. Schon als kleines Mädchen tat sie alles, um die Mutter zu besänftigen. Je netter und lieber sie sei, desto höher die Chancen ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen, war der Glaubenssatz.
Kennst Du Menschen, die ein ähnliches Verhalten an den Tag legen?
Erkennst Du Dich vielleicht selbst an der ein oder anderen Stelle wieder?
Die meisten Menschen haben in ihrer Kindheit nicht gelernt, wie sie Gefühle gut regulieren, sodass sie sich nicht von ihnen überwältigt fühlen. In den meisten Fällen haben unsere Eltern uns nicht beigebracht, wie wir zum Beispiel Wut gesund ausdrücken können oder wie wir milde mit Traurigkeit und Verzweiflung umgehen können. Dies soll kein Anlass sein, unseren Eltern nun einen Vorwurf zu machen, denn auch sie haben diese Fähigkeit nicht von ihren Eltern gelernt. Je weiter wir in den Generationen zurückblicken, desto weniger Kompetenz finden wir dort für die Regulation von Gefühlen.
Heute beschäftigen sich etliche Coaches, Therapeut*innen und spirituelle Lehrer*innen mit dem Thema Inneres Kind. Scheinbar ist jetzt auch kollektiv die Zeit dafür, zu lernen mit den kindlichen Anteilen in uns umzugehen. Zu lernen, Gefühle gewaltfrei zu äußern und selbstständig zu regulieren. Diese Welt braucht jetzt ganz dringend erwachsene Menschen, die besonnene Entscheidungen treffen.
Wie zeigt sich das Innere Kind im Alltag?
Wenn wir uns nicht aktiv und bewusst den kindlichen Anteilen in uns zuwenden, dann werden wir von diesen gelenkt. Dann sind wir den ganzen Tag damit beschäftigt, die Gefühle von Verzweiflung, Ohnmacht, unterdrückter Wut, Nicht-richtig-Sein, Suche nach Anerkennung und Liebe zu händeln. Alltagssituationen mit dem Partner, der Chefin, der Freundin oder auch äußere Umstände, wie wir ihnen zur Zeit begegnen, können Auslöser dafür sein, dass ungelöste, kindliche Verletzungen in uns wieder angetriggert werden.
Eine Situation in Deinem Hier und Jetzt erinnert Dich vielleicht unbewusst an ein Erlebnis mit Deiner Mutter, in dem Du Dich klein und missachtet gefühlt hast. Dadurch, dass Du damals als Kind nicht gelernt hast, mit diesem verletzenden Gefühl umzugehen – weil Dir Deine Mutter dabei vielleicht nicht ausreichend helfen konnte – hat sich dieses ungelöste Gefühl in Deine Seele eingebrannt. Ein Blueprint dieser Verletzung ist entstanden und jedes Mal, wenn Du heute eine ähnliche Situation erlebst, kommen dieselben Gefühle von damals hoch.
Komisch, die alte Situation ist doch längst vergangen.
Ja, aber ein Teil von dem kleinen Kind von damals, dem nicht geholfen wurde, diese Gefühle in dem Moment zu regulieren, ist dadurch in genau diesem Gefühl stehen geblieben. Ein Teil dieses Kindes von damals, lebt somit immer noch in Dir. Für dieses Innere Kind gibt es im Übrigen keine Zeitlinie. Die heutige Verletzung, die Dich an das Vergangene erinnert, fühlt sich genauso frisch und schmerzhaft an, wie damals, auch wenn die Ursprungs-Verletzung vielleicht schon Jahrzehnte zurück liegt.
Kennst Du diese Momente, wo Du mal wieder nicht so gehandelt hast, wie Du es Dir eigentlich gewünscht hast?
Wo Du ganz plötzlich Deinen Partner oder Deine Kinder angeblafft hast, weil Du Dich von ihnen überfordert gefühlt hast und hinterher tut es Dir leid?
Wo Du Dich in einer Situation unsicher und nicht richtig gefühlt hast, weil Dein Gegenüber launisch oder genervt war und Du sein Verhalten persönlich genommen hast?
Wo Du Deine Bedürfnisse nicht geäußert hast, weil Du ja nicht auffallen wolltest und sowieso die Anderen nichts Schlechtes von Dir denken sollten?
Das Ruder Deines Lebensschiffs
All das sind Verhaltensweisen, die wir an den Tag legen, wenn Verletzungen des Inneren Kindes gerade in uns wirken. Wenn Du diese oder ähnliche Situationen kennst, dann hat Dein Inneres Kind das Ruder Deines Lebensschiffs übernommen.
Es ist vollkommen normal, dass wir alle diese kindlichen Anteile besitzen, die Frage ist allerdings, wie bewusst sind wir uns, dass sie da sind? Je bewusster wir die Dynamiken des Inneren Kindes in uns wahrnehmen, desto besser können wir lernen unsere Gefühle im Moment zu regulieren und nicht auszurasten, nicht zu verzweifelt, ängstlich, schüchtern oder ohnmächtig zu werden, sondern klar und besonnen „erwachsen“ zu reagieren. Je mehr Du lernst Dein Inneres Kind in den Arm zu nehmen, desto stärker wird Deine Innere Erwachsene in Dir – der Anteil, der eigentlich das Ruder Deines Lebensschiffs übernehmen sollte.
Der Schlüssel zur Heilung lautet Achtsamkeit
Es geht nicht darum sofort perfekt Dein Inneres Kind in den Griff zu bekommen – nein! Es geht darum jede Alltagssituation und die Menschen, mit denen Du in Beziehung gehst, als Übungen zu sehen, achtsam für Deine Gefühle, Deine Reaktionen und Dein Verhalten zu sein.
Was löst ein gewisser Mensch bei Dir aus?
Wie verhältst Du Dich immer wieder in einer bestimmten Situation?
Beobachte Dich. Gehe auf eine Entdeckungsreise und übe Dich auch darin, Dich nicht zu verurteilen, wenn Du manchmal nicht gleich blickst, dass da ein kindlicher Anteil in Dir gewirkt hat. Durch diese Achtsamkeit übst Du nämlich das Distanzieren. Du übst Dich darin zu Beobachten und wenn Du beobachtest, kannst Du nicht mehr überreagieren oder in der Verletzung sein. Dann nimmst Du eine erwachsene, selbstregulierende Position ein.
So gelangst Du zu mehr Energie und Kraft für Deine individuelle Gabe für die Welt
Durch das Steigern der Kompetenz der Selbstregulation wird auf einmal ganz viel Energie in Dir frei. Endlich bist Du nicht mehr damit beschäftigt, Dich unsicher, klein, schlecht, unbedeutend, nicht richtig oder sonst wie zu fühlen. Es kostet nämlich auf Dauer sehr viel Energie sich innerlich so zu fühlen und äußerlich aber den Schein zu wahren. Wenn diese Hürde wegfällt, wird unendlich viel Energie in Dir freigesetzt. Das ist der Zeitpunkt an dem Deine individuelle Gabe in Deinem Leben immer deutlicher spürbar wird. Dann ist das erschöpfte, matte Grundgefühl endlich vorbei und Du spürst die Kraft, die Du brauchst, Deine Gabe auch umzusetzen.
Die Zeit der „ewigen Kinder“ ist vorbei!
Diese Erde braucht jetzt achtsame und bewusste Menschen, die erwachsene Entscheidungen treffen. Es ist offensichtlich wie dringend wir diese Menschen brauchen, denn noch werden wir von den „ewigen Kindern“ regiert. Noch haben die „ewigen, verletzten Kinder“ das Ruder des Lebensschiffs der Welt im Griff. Ich sage ganz hoffnungsvoll und optimistisch – Noch!
Denn die Zeit der „ewigen Kinder“ ist vorbei. Die Zeit der geheilten, inneren Kinder hat schon begonnen und damit beginnt auch die Zeit des verantwortungsbewussten Menschen. Du kannst einer dieser neuen Menschen sein, indem Du mit der Heilung in Dir beginnst. Mutter Erde wird es Dir von Herzen danken.