Es war ein feuchtkühler Abend. Die Sonne war bereits untergegangen und der Himmel glühte orange-rosa über den kargen Feldern. Der Waldboden war aufgeweicht und rutschig, doch trotzdem war ich schnellen Schrittes unterwegs. Ich liebe diesen Wald, kenne ihn seit meinen Kindheitstagen wie meine eigene Westentasche und trotzdem schenkt mir dieser Wald bei jeden Spaziergang neue Erkenntnisse. So war es auch gestern Abend, als ich hier im Wald mein dunkelstes Geheimnis erkannte.
Es war Wintersonnenwende, die dunkelste Nacht des Jahres. Ich wollte an diesem Tag eigentlich nicht mehr arbeiten, sondern ihn feierlich in Ruhe und Meditation verbringen. Wie es sich für eine anständige Medizinfrau gehört. Doch am Morgen entschied sich die Businessfrau in mir, nur noch schnell die letzten, wichtigsten Mails zu beantworten, damit alles vor Weihnachten erledigt sei.
Dann war es plötzlich Mittag und ich dachte mir: „Naja ok, ich schreib nur noch schnell einen kleinen Beitrag bei Facebook. Ich möchte doch meiner Community an Winterwende etwas schenken, wenn ich diesmal schon kein kostenfreies Ritual anbiete, dann doch wenigstens einen kleinen, inspirierenden Text.“
Hier und da fielen dann noch ein paar Kleinigkeiten an, die auch noch „ganz schnell“ erledigt werden wollten und dann war es plötzlich Nachmittag. Das Tageslicht schwand mit jeder Minute ein bisschen mehr und ich hatte noch nicht einmal das Haus verlassen.
„RAUS“, rief es plötzlich in mir. „Geh jetzt raus! Und zwar sofort.“
Ah, das war meine innere Stimme. Die hatte ich doch heute erfolgreich ignoriert, aber jetzt schien ihr Geduldsfaden gerissen zu sein. Hin und her gerissen zwischen Pflichtgefühl und Sehnsucht nach Ruhe entschied ich mich für Letzteres und schwang mich in den Wintermantel.
Ein Kind dieser Zeit
Im Wald war es ganz ruhig. Die Luft roch feucht und nach Winter. Alle Tiere hatten sich bereits auf die Kälte eingestellt und in ihren Höhlen verkrochen. Die Energie des Waldes schmeckte nach Stille und Einkehr. Und was machte ich? Ich stratzte schnellen Schrittes durch den Wald. „Ja, wenn ich schon mal draußen bin, dann kann ich ja auch gleich ein kleines Workout machen.“ Nebenbei ratterte die Denkmaschine: Pläne für Weihnachten, die letzten To-Do-Listen, bei wem wollte ich mich nochmal melden...? und so weiter und so fort.
Irgendwann schrie es wieder in mir: „Stop! Halt an! Jetzt! Sofort!“
Ich blieb plötzlich wie angewurzelt stehen und schaute mich um. Hatte ich den Wald überhaupt schon wirklich wahrgenommen, seitdem ich hier herumlief? Hatte ich meinen Platz vom Schreibtisch eigentlich schon verlassen? Körperlich vielleicht schon, aber mein Verstand blätterte immer noch im Terminkalender herum.
Und da fand ich es. Zwischen den sich sanft wiegenden Baumwipfeln und dem feucht-braunen Laub. Hier zum Anbruch der längsten Nacht des Jahres war es verborgen: Mein dunkelstes Geheimnis.
Plötzlich wusste ich, ich bin ein Kind meiner Zeit. Ich bin ein Kind des alten Systems. Mein ganzes Wesen, mein Sein wurde geprägt durch die sogenannte Leistungsgesellschaft. Von klein auf ging es darum, etwas zu werden, etwas zu schaffen, noch besser, noch gesellschaftskonformer, noch mehr zu werden, als ich von Geburt an war. Denn so wie ich bin, scheint es nicht ausreichend zu sein. Zumindest war es das, was mir mein Leben lang vermittelt wurde.
Loslassen in der Haltung der Dankbarkeit
In diesem Moment akzeptierte ich etwas, nämlich, dass ich dieses alte Glaubenssystem so lange selbst am Laufen halte, wie ich meinen Fokus auf mein übertriebenes Pflichtgefühl, meinen Leistungsanspruch und meinen strengen Gedanken, noch nicht genug getan zu haben, lenke. Es war wie eine Last, die von meinen Schultern fiel, als ich dies erkannte und mir eingestand. Ich ging zum nächsten Baum, umarmte den einladenden, mütterlichen Stamm und ließ ein paar Tränen herabrollen. In diesem Moment akzeptierte ich alles was war: Meine Prägung, meine Familie, die Kultur, die Gesellschaft in die ich hineingeboren wurde, das Kollektiv, meine Ahnen, die mir dieses Erbe mitgegeben hatten. Alles! Und so konnte es sich erleichtern.
Es konnte Frieden finden. Langsam zog die Stille des Waldes auch in mein Herz ein und dieses Herz fühlte plötzlich Dankbarkeit für alles, was war. Mein Herz ist großartig darin, Dankbarkeit zu empfinden für Dinge, die mein Verstand nur verurteilen kann. Doch wenn es um das Thema Loslassen geht, dann ist die Haltung der Dankbarkeit der beste Wegweiser.
Wenn wir etwas loswerden wollen, weil wir es satt haben, weil es uns wütend und traurig macht oder verzweifeln lässt, dann ist das ein Zeichen dafür, dass wir die Lektion dieses Themas noch nicht gelernt haben. Alles in unserem Leben möchte uns etwas lehren. Was das ist, muss jede selbst herausfinden, aber das Ziel ist immer das Gleiche: Alles in unserem Leben möchte uns helfen, sodass wir zu mehr Freiheit, Glück und Erfüllung gelangen. Alles möchte uns helfen, dass wir zu mehr Bewusstsein gelangen.
Es war Wintersonnenwende in diesem stillen, dunklen Wald und in diesem Moment durfte sich auch in mir etwas wenden. So sprach ich zu mir selbst:
„Ich verabschiede mich vom alten Glaubenssystem in mir, vom Gefühl "es ist noch nicht genug“ und vom Mangel. Ich bin sehr dankbar, dass mich dieses System bisher begleitet hat, dass es mich wunderbare Dinge gelehrt hat, dass es meinen Charakter geformt hat. Angetrieben durch dieses System habe ich viele Dinge geschafft, geleistet und erreicht. Das gilt es anzuerkennen. Aber nun ist die Lektion gelernt. Nun verwandelt sich das Programm Mangel in die Fülle. Ich erschaffe fortan aus der Ruhe, der Kraft, der Fülle und der Haltung: Es ist absolut genug. Ich bin genug. Es braucht nicht mehr. Alles was ich gebe, ist ein Ausdruck meines inneren, vollkommenen Reichtums und Überflusses."
Das neue Licht in mir
Nach all den vielen Jahren der Persönlichkeitsentwicklung und der spiritueller Praxis holen mich scheinbar manchmal die Schatten des alten Systems immer noch ein. Diese Schatten, die mir mit strengem Ton einreden wollen, ich sei noch nicht gut genug. Nachdem ich erkannte, dass auch das in mir lebt, dass ich diese alte Welt in mir selbst herstelle und dass die neue Welt nur wachsen kann, wenn ich das Alte in mir akzeptiere, wurde es plötzlich still in mir.
Indem ich mein dunkelstes Geheimnis endlich anerkannte, durfte es sich erlösen. Da wurde es licht und frei in meinem Herzen und eine neue Energie konnte wachsen, wie eine neue Sonne, die ihren tiefsten Punkt erreicht hat, um fortan wieder aufzusteigen.
Und als die Nacht im Wald hereingebrochen war, begrüßte ich das neue Licht in mir!
Wie wertvoll deine Texte. Inspiriend zu sehen wo die Sachen bei mir hin fallen, von denen du berichtest. Danke für deine Arbeit. Ganz liebe Grüße, Katrin